Erwachsene reden. Marco hat was getan. Jugendbuchempfehlung
Kirsten Boie:
Erwachsene reden. Marco hat was getan.
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- Kirsten Boie: Erwachsene reden. Marco hat was getan. München: dtv junior, 2006, 96 S.
- Lesestufe: ab 8. Klasse
2. Inhaltsangabe
In einer idyllischen deutschen Kleinstadt ist ein Brandanschlag auf ein von Türken
bewohntes Haus verübt worden, bei dem zwei Kinder ums Leben gekommen
sind. Der Täter wird schnell gefasst, es handelt sich um den 15-jährigen
Marco, der offensichtlich mit neofaschistischen Gruppen sympathisiert. Kirsten
Boies Buch setzt erst an dieser Stelle ein. Es stellt unkommentiert die Aussagen
von 13 Personen aus Marcos Umfeld zu dem Vorfall zusammen. So äußern sich
u. a. Freunde, der Bürgermeister des Ortes, Marcos Klassenlehrer und der Pastor
der Gemeinde. Der Leser nimmt die Rolle eines fiktiven Reporters ein, dem diese
Stellungnahmen erzählt werden. Er muss sich selbst ein Bild vom Tathergang,
möglichen Ursachen, der Schuldfrage, der Hilflosigkeit der Bürger und auch der
unterschwelligen Ausländerfeindlichkeit machen; nur ein kurzer Prolog und einige
Schlussworte, die indirekt Marcos Meinung wiedergeben, helfen dabei.
3. Kurzinformationen zur Autorin
Kirsten Boie wurde 1950 geboren, studierte Deutsch und Englisch und arbeitete
als Lehrerin an einem Gymnasium und einer Gesamtschule. Seit 1983 schreibt sie
für Kinder und Jugendliche. Bereits ihrem ersten Jugendbuch Paule ist ein Glücksgriff
wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt. Mittlerweile sind über 60 weitere Titel
hinzugekommen, so z. B. Nicht Chicago. Nicht hier., Mit Kindern redet ja keiner
oder Moppel wär gern Romeo. Im Jahr 2000 wurde sie für den Internationalen
Jugendbuchpreis, die Hans-Christian-Andersen-Medaille, nominiert. Kirsten Boies
Bücher erzählen zumeist Alltagsgeschichten und -probleme aus der Sicht von Kindern
und Jugendlichen; die Sprache ist sehr knapp, oft von trockenem Humor und
die des Zielpublikums selbst, allerdings ohne einen sich anbiedernden Tonfall. Die
jungen Leser finden ihre eigenen Probleme, Wünsche und Träume in den Texten
wieder.
Interessant ist der konkrete Schreibanlass zum vorliegenden Buch: Die Autorin hat
zwei dunkelhäutige Kinder adoptiert, „zu einem Zeitpunkt, als die Problematik
Ausländerfeindlichkeit noch überhaupt nicht so spektakulär war. Damals haben
wir aber schon viele Dinge bemerkt. Das Klima hat sich verändert.“ (Interview mit
Boie in: Bulletin Jugend & Literatur, 7/1994, S. 19) Ihr sei es nicht wichtig gewesen,
über dramatische Überfälle und extreme Skinheads zu schreiben. „Das was mich
beunruhigt, ist vielmehr der Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft, der
sich zumindest aus dieser Mitte auch speist und von vielen mit unterstützt und
getragen wird, die das bewusst eigentlich gar nicht wollen. Darüber wollte ich
ein Buch schreiben.“ (ebd.)
4. Allgemeine Einordnung
Kirsten Boies Erwachsene reden. Marco hat was getan. kann gewinnbringend
im Deutschunterricht der Klassen 8 und 9, aber durchaus auch in höheren Jahrgangsstufen
eingesetzt werden. Das Buch bietet keinerlei Handlungsspannung
oder Identifikationsmöglichkeit für die Schüler. Die Klasse, für die das Buch als
Lektüre gewählt wird, sollte also aus fortgeschrittenen Lesern bestehen, die die
ungewöhnliche Erzählform (die Wiedergabe der Gesprächsprotokolle) als spannende
intellektuelle Herausforderung ansehen.
Gleichzeitig ist zu bedenken, dass viele Schulklassen bei dem Stichwort Ausländerfeindlichkeit
mit Widerwillen und Abstumpfung („Nicht schon wieder!“) reagieren.
Daher sollte bei der Wahl der Arbeitsformen und Methoden sehr bewusst
darauf geachtet werden, dass der Unterricht nicht mit erhobenem Zeigefinger
zu „Pflichtbetroffenheit“ aufruft. Das Material, das das Buch anbietet, soll von
den Schülern als Hilfsmittel verstanden werden, sich methodisch kreativ, aber
auch rational und differenziert mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dies kann
der Unterricht durch einen produktionsorientierten Umgang mit dem Textmaterial
erreichen (z. B. Schreiben der Vorgeschichte, weitere Ideen s. u.). Das Buch
eignet sich meiner Erfahrung nach nicht für Klassen, die die unterschiedlichen
Nationalitäten der Mitschüler selbstverständlich akzeptieren oder diese bereits
gar nicht mehr wahrnehmen und auch in ihrem internationalen Umfeld nicht
mit rassistischen Tendenzen konfrontiert werden. In solchen Klassen würde man
etwas zum Thema machen, das in der direkten Lebenswelt der Schüler nicht
existiert.
5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten
Das Buch umfasst nur 96 Seiten. Nach einem kurzen Vorwort folgen 30 Stellungnahmen
von 13 verschiedenen Personen, abschließend wird indirekt Marcos eigene
Position wiedergegeben. Es gibt keinerlei Handlung, sondern lediglich fiktive
Gesprächsprotokolle ohne erklärende Kommentare, die offensichtlich TonbandBoie
aufzeichnungen eines Reporters sind, dessen Position der Leser einnimmt. Die
Struktur des Buches ist mit einem Puzzle vergleichbar: Die einzelnen Aussagen
ergeben, wenn sie der Leser zusammensetzt, ein immer klareres Bild der Tat, der
Umstände, aber auch des Täters Marco.
Die Sprache entspricht jeweils der des Befragten, was beim Leser das Gefühl der
Authentizität erhöht. Sie ist daher z. T. sehr umgangssprachlich („Mensch, könnt
ihr einen nicht wenigstens – also leckt mich doch alle!“, S. 7) und oft geprägt
von Gedankensprüngen und unvollständigen Sätzen. An vielen Stellen kann der
Leser ahnen, welche Fragen der Reporter gestellt hat („Ja, woher ich ihn nun
kenne – das hat sich einfach so ergeben.“, S. 22), abgedruckt findet man sie allerdings
nicht. Insgesamt ist die Sprache sehr einfach zu erfassen.
6. Didaktische Anregungen
Unterrichtseinstiege
Bevor die Klasse das Buch gelesen hat, kann der Titel thematisiert werden. Dieser
scheint Marco zunächst positiv darzustellen: Während Erwachsene nur über ein
Thema reden, ist endlich jemand aktiv geworden und hat Engagement gezeigt.
Die Schüler vermuten vielleicht, dass sich Marco für Schwächere oder die Umwelt
eingesetzt hat. Diese Assoziationen können notiert und am Ende der Unterrichtsreihe
nochmals aufgegriffen werden, um dann die eigentliche Bedeutung
und Anspielung auf den versteckten Rassismus in der Gesellschaft zu verstehen.
Möglich ist auch ein Einstieg mit einer aktuellen Schlagzeile (z. B. titelte die
Frankfurter Rundschau am 11. 5. 2005: „Mehr rechte Straftaten – Zunahme bei
Propaganda- und Gewaltdelikten“). Davon ausgehend sollen die Schüler in
Gruppen Mindmaps auf Folien erstellen: Was wissen wir eigentlich über Rechtsextremismus?
Alternativ können sie auch zunächst die Aufgabe erhalten, eine
Collage zum Thema Ausländerfeindlichkeit anzufertigen, auf der sie Bilder, Slogans,
Texte usw. sammeln. Die Ergebnisse (der Mindmaps oder Collagen) werden
anschließend präsentiert und bieten einen ersten Anlass, über verschiedene Aspekte
des Themas (rechte Gruppierungen, Symbole der Szene, mögliche Opfer,
... ) ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig kann der Lehrer nach einer solchen
Phase das Vorwissen und das Interesse der Schüler besser einschätzen. Oft tauchen
dabei viele Fragen auf, denen unbedingt Raum gegeben werden muss.
Möglicherweise können einige Themen zur Klärung in den Politik- (Symbole der
Szene, rechte Musik, aktuelle Vorfälle, Parteien mit rechtsradikaler Gesinnung,
…) oder Geschichtsunterricht (Nationalsozialismus, v. a. falls dieser noch nicht
behandelt worden ist) „ausgelagert“ werden.
Auseinandersetzung mit den Figuren
Kirsten Boie stellt in ihrem Buch nicht den Täter Marco in den Mittelpunkt, sondern
hinterfragt vielmehr das Verhalten der Menschen in seinem Umfeld, und
wirft so die Frage nach der Mitverantwortung auf. Dem Leser präsentieren sich
z. B. völlig überforderte Eltern ohne jedes Erziehungskonzept, ein überengagierter
Klassenlehrer, ein sehr engstirniger Bürgermeister, ein Sozialarbeiter, der die
beobachteten
Symptome unterschätzt hat, und ein Freund aus einer rechtsextremen
Gruppe, der die Fremdenfeindlichkeit bagatellisiert. Die Auseinandersetzung
mit diesem Umfeld sollte unbedingt das zentrale Element der Unterrichtsreihe
sein.
Die Position des Lesers als Reporter bietet es an, den gesamten Text produktionsorientiert
nutzbar zu machen. So könnte man die Schüler in die Rolle von Journalisten
versetzen, die über den „Fall Marco“ eine Sonderseite in ihrer Zeitung
herausbringen
wollen. Hierzu werden unterschiedliche Aufgaben innerhalb
des „Redaktionsteams“ vergeben: sich besonders ausführlich mit einer Figur beschäftigen,
weitere Interviews mit fehlenden Personen (Marco, seine Eltern, seine
Brüder, ... ) entwickeln oder Beiträge für die Zeitung schreiben. In diesem Zusammenhang
können Textsorten wie Bericht, Reportage oder Kommentar eingeführt
werden.
Auch eine Fernsehdokumentation, in der die 13 Personen interviewt werden, eignet
sich dazu, das gesamte Geschehen zu verarbeiten. Die Schüler beschäftigen
sich zunächst paarweise mit jeweils einer Figur. Sie sollen mithilfe der Aussagen
„ihrer“ Person eine Rollenbiografie erstellen, d. h. versuchen, deren Charakter
und Denken zu erfassen. Dabei füllen sie Leerstellen und legen z. B. das Aussehen,
die Sprache und das Auftreten fest; hier sollte man darauf achten, dass keine
Phantasiefiguren entstehen, und die Schüler immer wieder auf die Textvorgaben
hinweisen. Die Rollenbiografien werden auf Plakaten festgehalten, präsentiert
und evtl. diskutiert. Anschließend einigt sich die Klasse auf Fragen für das Fernsehinterview
(Können Sie sich bitte kurz vorstellen? Woher kennen Sie Marco? In
welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm? Was hat ihn Ihrer Meinung nach zu dieser
Tat bewogen? Gibt es jemanden, der etwas mit dieser Tat zu tun hat? Wer hätte
den Anschlag verhindern können?). Die Schüler formulieren nun Antworten für
„ihre“ Person. Einige sollten in dieser Phase mit dem „Bühnenbild“ für den Filmraum
beauftragt werden und z. B. einen geeigneten Hintergrund entwickeln.
Für die Aufnahmen können sich die Schüler verkleiden, hier ist allerdings darauf
zu achten, dass die Arbeit nicht ins Lächerliche abgleitet, sondern dass z. B. über
den Stil einzelner Personen diskutiert wird (Klassenlehrer, Freund Norman L.,
Bürgermeister, ...).
Die eigentliche Filmaufnahme ist dann zwar sehr zeitaufwändig, besonders
wenn einzelne Szenen besprochen und dann optimiert wiederholt werden, die
Erstellung und die Auseinandersetzung mit den Interviewsequenzen fördert
aber eine sehr genaue Analyse des (knappen) Textmaterials. Am Ende können
die Interviews wie eine Collage zusammengeschnitten werden. Natürlich ist es
auch möglich, sie in einem Hörspiel aufzubereiten.
Wenn im Unterricht besonders die Frage der Schuld bzw. Mitschuld der Umgebung
behandelt werden soll, kann man ein völlig anderes Szenario mit den
Schülern konzipieren: Marcos Gerichtsverhandlung soll von der Klasse vorbereitet
und durchgeführt werden. Die Schüler erhalten Rollen zugewiesen, auf die sie sich
mithilfe des Textes vorbereiten müssen. Es gibt zahlreiche Zeugen (vornehmlich
die Personen des Buches, weitere können hinzugefügt werden), Marcos Verteidiger,
der sicherlich eine Mitschuld im ausländerfeindlichen Umfeld nachweisen
will, einen Staatsanwalt und einen Richter (der gleichzeitig eine moderierende
Funktion hat, weshalb diese Rolle von mindestens zwei Schülern übernommen
werden sollte). Besonders die Plädoyers des Verteidigers und des Staatsanwaltes
erfordern hier eine sehr genaue Auseinandersetzung mit dem Text.
Die Rolle des Bürgermeisters („Häuser anzünden und Ausländer verbrennen ist
unmenschlich. Obwohl wir natürlich überhaupt keine Türken haben bei uns, das
sagte ich ja schon.“, S. 51) und des Schulleiters („Einmal (…) stand da an der
Wand: Judensau. (…) Ja, wir sind dann natürlich sofort darauf eingegangen, im
Untericht ist darüber geredet worden: Was soll das bedeuten, Judensau? Und
natürlich auf den allgemeinen Aspekt, (…) dass man natürlich keine Wände beschmieren
soll.“, S. 39 f.) sind in sich widersprüchlich. Es hat sich gezeigt, dass sich
gerade jüngere, leseunerfahrene Schüler mit dieser Dialektik schwertun. Sie sollte
daher im Unterricht eng angeleitet besprochen werden. Ein möglicher Analyseeinstieg
kann das Erstellen eines Streitgespräches zwischen dem Klassenlehrer
und dem Schulleiter (im Rahmen einer Lehrerkonferenz) über ein zukünftiges
pädagogisches Konzept an der Schule sein, in dem die ignorante Haltung des
Schulleiters deutlich werden sollte.
Das gesamte Unterrichtsvorhaben kann auch aus der Sicht eines Ermittlers durchgeführt
werden, der die Mitschuld der Bevölkerung untersuchen soll. In diesem
Szenario simulieren die Schüler arbeitsteilig Verhöre (auch mit Marco und seinen
Eltern) und schreiben Gesprächsprotokolle. Endprodukte der Arbeit wären dann
eine Ermittlungsakte und Presseerklärungen, die von der Klasse gemeinsam erstellt
werden.
Vergleich mit dem epischen Theater
In Klassen der Sekundarstufe II, in der das Buch auch eingesetzt werden kann,
oder in leistungsstarken jüngeren Jahrgangsstufen ist ein interessanter Vergleich
des Textes mit Bertolt Brechts epischem Theater möglich. Dessen charakteristische
Eigenschaften werden die Schüler in Kirsten Boies Werk wiederfinden können:
den Verzicht auf die Zuspitzung der Handlung, die fehlende aristotelische Katharsis,
den offenen Schluss. Der Zuschauer wird gesellschaftlich aktiviert, muss
die aufgeworfenen Fragen selbst beantworten und soll kritisch Stellung nehmen.
Ideal wäre es, wenn die Schüler bereits ein Stück von Brecht (z. B. Der gute Mensch
von Sezuan) im Unterricht behandelt haben und diese Merkmale kennen. Ansonsten
kann man auch anhand eines Lexikonartikels nachweisen, dass Kirsten Boie
(die übrigens über Brechts frühe Prosa promovierte) in Erwachsene reden. Marco
hat was getan. mit Elementen des epischen Theaters arbeitet.
Szenisches Spiel
Bei der Analyse des Buches können auch Techniken des szenischen Spiels eingesetzt
werden. Hier bieten sich methodisch zum einen Standbilder an (z. B. Marco
in seiner Familie oder im Jugendclub), zum anderen auch das Spielen von Szenen
vor Publikum. Dabei geht es nicht darum, die Interviews nachzustellen, sondern
die Schüler sollen Drehbücher für Situationen schreiben, die vor Marcos Brandanschlag
geschehen sind: die Rückgabe der Klassenarbeit in Geschichte, das Verhalten
im Jugendclub, ein Gespräch zwischen Marco und seiner Mutter z. B. über
die herausgeschraubten Ventile am Fahrrad des Nachbarjungen („Und sie [die
Mutter] hat dann gleich – sie hat ihm das immer geglaubt.“, S. 12). Diese Szenen
werden arbeitsteilig erarbeitet und vorgestellt.
Christiane Althoff