Ein kleines Stück Freiheit von Elizabeth Laird mit Sonia Nimr. Jugendbuchempfehlung
Elizabeth Laird mit Sonia Nimr:
Ein kleines Stück Freiheit
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- Elizabeth Laird mit Sonia Nimr: Ein kleines Stück Freiheit. Eine Kindheit in Ramallah. Würzburg: Arena, 2006, 320 S. (aus dem Englischen von Mareike Weber, Originaltitel: A Little Piece of Ground, mit einem Nachwort von Dr. Behrouz Khosrozadeln)
- Lesestufe: 7. Klasse
2. Inhaltsangabe
Der 12-jährige Karim lebt mit seinen drei Geschwister und seinen Eltern im Zentrum von Ramallah im Westjordanland. Er ist Palästinenser und leidet unter der Besatzung der Israelis, die immer wieder Ausgangssperren verhängen. Während dieser kann er sich nur in der kleinen Wohnung aufhalten, sein Vater sitzt dann gereizt vor dem Fernseher und macht sich Sorgen um sein Elektrogerätegeschäft, das er nicht öffnen kann. Die beiden kleinen Schwestern spielen unruhig und Jamal, Karims älterer Bruder, mit dem er sich ein Zimmer teilen muss, ärgert und provoziert ihn. Jamal ist für Karim aber auch ein großes Vorbild, da er sich als Steinwerfer aktiv am Widerstand gegen die Israelis beteiligt. Sobald die Bewohner die Häuser – oft nur für wenige Stunden – verlassen dürfen, geht Karim mit seinem Freund Joni begeistert Fußball spielen und vergisst die Welt um sich herum. Eines Tages trifft er Hopper und richtet sich mit ihm einen neuen Fußballplatz am Rande eines Flüchtlingslagers ein. Auch Joni weihen die beiden in den geheimen Platz ein, auf dem sie sich in einem alten Auto verstecken können und eine Katzenfamilie als Nachbarn haben. Als eines Abends israelische Panzer auf dem Platz auftauchen, kann Karim zunächst nicht fliehen und versteckt sich zwei Tage lang in dem Autowrack. Als er schließlich flüchtet, wird er angeschossen. Jamal, der sich – trotz der Ausgangssperre – auf die Suche nach Karim gemacht hat, kann ihn mit letzter Kraft in ein Krankenhaus bringen. Dort müssen die Jungen bis zum Ende der Ausgangssperre bei widrigen Umständen ausharren. Als Karim wieder zu Hause ist, erfährt er, dass Joni mit seiner christlichen Familie nach Jordanien auswandern wird. Karim ist zwar sehr enttäuscht, weiß aber, dass er mit Hopper einen neuen Freund hat.
3. Kurzinformationen zu den Autorinnen
Elizabeth Laird wurde 1943 in Neuseeland geboren und wuchs in England auf, wo sie heute mit ihrer Familie als Schriftstellerin lebt. Viele Jahre hat sie u. a. als Lehrerin für Englisch als Fremdsprache im Ausland gelebt (z. B. in Malaysia, Äthiopien, Indien, Österreich, im Irak und Libanon). Ihre zahlreichen Jugendbücher beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Problemen und vor allem aktuellen internationalen Konflikten, die, wie sie oft betont, etwa im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg in der Literatur völlig vernachlässigt werden. So schreibt sie in dem hier vorgestellten Buch über den Nahostkonflikt oder über die Kurden im Irak in Kiss the Dust (dt. Trag mich über die Berge). Ihre Werke wurden mehrfach für die Carnegie Medal nominiert und mit dem Children’s Book Award und den Smarties Young Judges Award ausgezeichnet. Für Ein kleines Stück Freiheit hat sie mit der palästinensischen Archäologin, Schriftstellerin und Übersetzerin Sonia Nimr zusammengearbeitet.
4. Allgemeine Einordnung
Die Erzählung Ein kleines Stück Freiheit kann in einer 7. Klasse, in der die Schüler sich sehr gut mit dem etwa gleichaltrigen Karim und seinen Freunden identifizieren, eine sehr gute Grundlage für eine Unterrichtseinheit oder ein Projekt in den Fächern Deutsch und Politik zum Thema „Leben in Konfliktregionen“ bzw. „Nahostkonflikt“ sein. Bei der Behandlung der Lektüre ist es wichtig, dass der historische Kontext (Wie kam es zur Gründung des Staates Israel? Warum leben die Palästinenser im Westjordanland unter der Kontrolle der Israelis? Wie ist der Hass der Bevölkerung auf die Besatzer zustande gekommen? Wieso ist Hopper in einem Flüchtlingslager aufgewachsen?) sehr genau erarbeitet wird, da die Geschichte sonst als einseitige Darstellung der Position der Palästinenser ein verzerrtes Bild entstehen lässt und evtl. Antisemitismus schürt. Hier ist das Nachwort von Dr. Behrouz Khosrozadeh, einem iranischen Politologen, der an der Universität Göttingen lehrt, eine große Hilfe. Es liefert einen chronologischen Überblick über den Konflikt und zieht bei der Darstellung immer wieder Parallelen zu der Handlung der Erzählung. Sicherlich sind die Schüler dieser Altersstufe noch nicht in der Lage, den Konflikt in seiner politischen Komplexität zu erfassen; das grundsätzliche Problem und besonders die daraus resultierende Lebenssituation der Menschen, die in den Fernsehnachrichten kaum Platz findet, können die Schüler aber sehr empathisch nachempfinden, wenn man die Anspannung in der Familie während der Ausgangssperre oder die waghalsigen Protestaktionen von Jamal oder Hopper behandelt. Natürlich kann man auch textimmanent arbeiten und z. B. das Verhältnis der beiden Brüder oder die Freundschaft der so unterschiedlichen Jungen Karim, Joni und Hopper untersuchen.
5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten
Die Erzählung umfasst 308 Seiten, die in 28 Kapitel eingeteilt sind. Auf weiteren 12 Seiten wird im Nachwort, wie bereits erwähnt, der historische Kontext erläutert. Erzählt wird personal aus Karims Sicht. Die Handlung und die Sprache des Buches sind leicht verständlich, mit einigen vorab gegebenen politischen Informationen (Wo ist Ramallah? Wieso können Israelis eine Ausgangssperre verhängen? …) können die Schüler das Buch ohne Schwierigkeiten vorbereitend lesen. Besonders im letzten Drittel, in dem Karim in seinem Versteck ausharren muss, ist die Spannung sehr groß, was die Lesemotivation der Schüler fördert.
6. Didaktische Anregungen
Der Nahostkonflikt – eine kindgerechte Annäherung
Sicherlich wäre es in der Jahrgangsstufe 7 eine völlige Überforderung der Schüler, wenn man die Hintergründe des Nahostkonflikts im Detail zu erläutern versuchte. Allerdings ist es sehr wohl möglich, vor dem Lesen der Lektüre einen Überblick über den Kern des Konfliktes zu geben. Hierzu sollte man ungefähr zwei Stunden einplanen, die sehr stark vom Lehrervortrag und dem gemeinsamen Gespräch mit der Klasse geprägt sind. Eine große Weltkarte und auch eine Karte Israels bzw. des Nahen Ostens sollten währenddessen unbedingt vorliegen. Zunächst kann man die Schüler frei erzählen lassen, was sie bereits über das Judentum wissen. Aus dem Religionsunterricht ist ihnen das Alte Testament bekannt, so dass sie auch erklären können, warum die Gebiete im heutigen Israel für die Juden eine besondere Bedeutung haben. Auch wissen die Schüler, dass die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und systematisch ermordet wurden. Mithilfe dieser beiden Fakten können sie verstehen, wieso man 1948 den bereits lange bestehenden Plan eines jüdischen Staates in die Tat umgesetzt hat. Schnell wird ihnen dann auch der Kern des Konfliktes klar: Das Land für diesen Staat war leider nicht unbesiedelt, sondern dort lebten die Palästinenser. Der Teilungsplan der UNO wird vorgestellt und die Schüler können Vermutungen anstellen, wie die Palästinenser und andere benachbarte islamische Staaten wohl auf diese Idee reagierten. Hier kann man den ersten arabisch-israelischen Krieg erläutern, auf eine Aufzählung aller weiteren Konflikte sollte dann aber verzichtet werden. Wichtig ist wiederum, dass Israel 1967 im „Sechstagekrieg“ das Westjordanland (hier kann auf der Karte die Stadt Ramallah, der Ort der Handlung, gezeigt werden) und den Gazastreifen eroberte. Die Schüler sollen überlegen, wie die Israelis wohl mit den Menschen umgingen bzw. wie die Menschen reagierten, die in diesen Gebieten lebten. Sie werden Flucht als eine Möglichkeit nennen und man kann ergänzen, dass zahlreiche Palästinenser heute in Ägypten, Jordanien, dem Libanon und Syrien leben (wie Jonis Verwandte in der Lektüre). Vielleicht schlagen die Schüler auch das Errichten von Flüchtlingslagern vor (vgl. Hopper). Vereinfachend kann dann erläutert werden, dass es bis heute zwar zahlreiche Friedensbemühungen gegeben hat (und z. B. die Israelis 2005 zahlreiche Siedlungen in den Palästinensergebieten geräumt haben), dass es aber immer noch großen Hass zwischen Israelis und Palästinensern gibt (und z. B. Jamals Verhalten für einen palästinensischen Jungen nicht ungewöhnlich ist). Aktuelle Details wie die Wahl der Hamas zur Regierungspartei können vernachlässigt werden, um die Schüler nicht zu überfordern. Falls es in den Nachrichten aber Meldungen aus dem Gebiet gibt, können diese im Unterricht besprochen werden; bei Berichten über Selbstmordattentäter kann man z. B. den Attentäter einem Lager zuordnen und mit den Schülern über dessen Ziele und Motive sprechen. Nach der Besprechung der Lektüre kann man mit leistungsstarken Klassen das Nachwort, das immer wieder Bezüge zwischen der Historie und der Handlung herstellt, lesen und z. B. eine Chronologie des Konfliktes erstellen.
Die Folgen der Ausgangssperren für das Familienleben
Im Unterricht sollte nicht der historische Kontext des Konfliktes im Vordergrund stehen, sondern in dieser Jahrgangsstufe geht es vielmehr darum, mithilfe des Fallbeispiels Karim empathisch nachzuvollziehen, was es bedeutet, unter Besatzung zu leben. Hierzu sollen sich die Schüler zunächst vorstellen, drei Tage lang mit ihrer gesamten Familie die Wohung nicht verlassen zu dürfen, und dann schildern, welche Konflikte wohl entstehen könnten und welche Situationen zu Streit führen würden (Einigung über das Fernsehprogramm, räumliche Enge, …). Als Impuls kann der Lehrer fragen, welche Folgen diese Ausgangssperre für den Schulbesuch und die Arbeit der Eltern hat. Diese ersten eigenen Überlegungen werden dann mit Karims Erfahrungen verglichen
(die Schüler sollten zumindest das erste Kapitel vorbereitend gelesen haben), wobei schnell deutlich wird, dass Karim ebenfalls die genannten Schwierigkeiten hat: Auseinandersetzungen mit den Geschwistern, Lärm in der Wohnung bei Streit, Vermissen der Freunde und des Sports, Langeweile, … Als Hausaufgabe verfassen die Schüler Karims Tagebucheintrag vom Abend des Tages, den das erste Kapitel beschreibt. Im zweiten Kapitel darf die Familie dann für zwei Stunden das Haus verlassen. Auch hier können die Schüler zunächst wieder für sich überlegen, wie sie diese Zeit nutzen würden. Die Ergebnisse werden dann auf Karten notiert und vorgestellt. Einige Schüler denken dabei sicherlich an ihre eigenen Interessen (Freunde treffen, auf den Sportplatz gehen, ein neues Computerspiel kaufen, Bücher in der Bücherei ausleihen, …), andere werden überlegen, was die Familie braucht, um die weitere Ausgangssperre gut zu verkraften (einkaufen, den Müll wegbringen, …). Viele Schüler denken bei der Besprechung der Karten dann auch an schwächere Menschen (Alte, Kranke, Eltern mit sehr kleinen Kindern), die in den wenigen Stunden nicht alles erledigen können. Dieser Gedanke ist sehr wichtig, da er deutlich macht, wer unter der Besatzung am meisten zu leiden hat.
Karims „Fluchtmöglichkeiten“
Karims größter Wunsch während der Ausgangssperren ist es, Fußball zu spielen. Im dritten Kapitel wird der Grund beschrieben: „Schon war er ganz in das Spiel und seinen Rhythmus versunken, die Anspannung ließ nach und sein Kopf leerte sich.“ (S. 32) Mithilfe dieser Textstelle können die Schüler einen Dialog zwischen Karim und seiner Mutter schreiben und als Rollenspiel vorstellen; diese fragt, warum der Junge nach Aufhebung der Ausgangssperre immer sofort Fußball spielen wolle und wieso ihm der Fußball in der Wohnung so fehle. Aus den Dialogen wird deutlich, dass der Sport für Karim einerseits einfach ein Hobby ist, das ihm Spaß macht, dass er beim Spielen aber auch endlich einmal nicht über seine Probleme nachdenken muss und sich frei fühlen kann. Außerdem hofft er auf eine Karriere als Fußballprofi, die ihm einen Ausbruch aus der engen Welt in Ramallah ermöglichen würde. Nun kann man mit den Schülern Karims weitere „Fluchtmöglichkeiten“ aus dem grauen Alltag erarbeiten, die ihn seine Probleme vergessen lassen; diese Funktion erfüllen der selbstgebaute „Abenteuerspielplatz“ der Jungen und auch das Computerspiel Lineman, das ihn während der Ausgangssperren ablenkt (weshalb es eine große Katastrophe ist, als Jamal das Spiel verkauft).
Die Begegnung mit den israelischen Soldaten
Da das Buch aus der Sicht des palästinensischen Jungen Karim geschrieben ist, wird die Besatzung (verständlicherweise) als sehr negativ dargestellt. Dies birgt die Gefahr, dass die Schüler als Ergebnis der Unterrichtsreihe Unverständnis für die Israelis und schlimmstenfalls Antisemitismus mitnehmen. Um diese Gefahr zu entschärfen, sollte unbedingt Karims Begegnung mit den israelischen Soldaten, die er aus seinem Versteck heraus beobachtet, behandelt werden. Während Karim in dem Autowrack verharrt, spielen die Soldaten mit seinem Fußball. Ein Soldat lockt die Katze an, die die Freunde versorgt haben, und streichelt sie sanft. Für einen kurzen Moment sieht er plötzlich genauso aus wie Jamal (S. 249 f.). Später muss Karim mehrfach an dieses Gesicht denken und wundert sich, warum der Soldat ihn an den eigenen Bruder erinnern konnte. Im Unterricht soll die Klasse zunächst zusammentragen, was die Soldaten tun, während sie Wache halten. Den Schülern wird deutlich, dass auch die Israelis „menschlich“ sind, dass sie dieselben Interessen (Fußball, Spielen mit Tieren) wie Karim haben und dass sich selbst ihr Aussehen nicht von dem der Palästinenser unterscheidet. Diese Parallelen symbolisieren nochmals das Absurde des Hasses, den Karim tief in sich trägt; plötzlich hat das „Monster“ Israeli für ihn ein sehr humanes Gesicht bekommen.
empfohlen von Christiane Althoff